Die 1899 von einem Konsortium gegründete Fabricca Italiana Automobili Torino (FIAT) wuchs in der Pionierzeit der motorisierten Fortbewegung rasend schnell zu einem Giganten der Branche. Nachdem man vorerst nur Fahrzeuge für eine wohlhabende Schicht in Handarbeit produziert hatte, machte man sich bald Gendanken um eine Automatisierung der Produktion, um auch die Bevölkerung mit preiswerten Fahrzeugen versorgen zu können. Zudem weitete Giovanni Agnelli als geistiger Vater und Vordenker der aufstrebenden Firma die Produktionspalette auf Lastwagen, Schiffsmotoren und sogar Lokomotiven aus. Eine zentrale Produktionsstätte musste her, und so wurde 1915 ein Gebiet vor den Toren Turins gekauft.

Lingotto Mycar 02Nachdem Agnelli die Fabriken von Henry Ford in Detroit eingehend studiert hatte, wurde der Architekt Giacomo Matte-Trucco mit der Planung eines für damalige Verhältnisse gigantischen Komplexes betraut. 1917 begann der Bau von Lingotto, das im Wesentlichen aus zwei länglichen Baukörpern mit dem Ausmaßen von 507 mal 24 Metern, die durch insgesamt fünf Querbauten verbunden wurden, besteht. Ein Bau mit 796.000 Hektar umbautem Raum mit 1963 Fenstern getragen von über 6.000 Pfeilern auf einer Grundfläche von 15 Hektar muss in den frühen Zwanziger für die meisten Zeitgenossen einfach unfassbar gewesen sein. Dazu kamen noch Nebengebäude wie etwa ein Pressenzentrum (für die Bearbeitung der Bleche) und Büros. Aber damit nicht genug. Auf dem Dach baute der findige Architekt eine Einfahr- und Versuchsstrecke mit einer Länge von über einem Kilometer, die über zwei mächtige Rampen zu erreichen war. Diese Strecken vereinfachten den Vorgang des damals noch notwendigen Einfahrens der Motoren und schützten Prototypen und Versuchsträger vor den neugierigen Augen der Paparazzi. Um 1920 war der Grundbau fertig, die Rampen und die Strecke kamen 1925 dazu, komplett war der Komplex mit Bahnanschluss (heute der Hauptbahnhof von Turin) etwa um 1927. Revolutionär auch die Produktion, die nicht horizontal , sondern vertikal organisiert war. Über mächtige Aufzüge lief die Fertigung etagenweise von unten nach oben- und dann eben auf die Piste am Dach. 17.000 Arbeiter fanden Lohn und Brot in Lingotto, auch ihre Wohnungen lagen nicht weit. Sozialeinrichtungen wie etwa großzügig angelegte Kantinen waren damals nicht selbstverständlich, auch nicht die großen Fensterflächen, die dem Tageslicht ungehindert Zutritt zu den Produktionsstätten gewährten. Wie groß der Weitblick des von Agnelli gewesen ist zeigt die Tatsache, dass in der Fabrik bis 1980 Autos vom Band liefen. 1984 wurde schließlich von FIAT ein Architekturwettbewerb für die Wiederbelebung des Kolosses ausgeschrieben, den der Städteplaner Renzo Piano gewann. 1989 wurde der Umbau in Angriff genommen, der bis heute nicht ganz abgeschlossen ist. Die klare zweckmäßige Form und die Möglichkeit fast nach Belieben Decken und Wände in den Stahlbetonbau einziehen zu können, schufen ein weites Feld für die Verwirklichung von Ideen aller Art. Lingotto beherbergt nun ein großes Hotel, eine Boutiken-Galerie, ein Konferenz- und Ausstellungszentrum und ist die Heimat der Turiner Philharmoniker. Theaterstücke und Konzerte können in einem Auditorium aufgeführt werden, das in einen der Innenhöfe eingebaut wurde. Die anderen Höfe sind nun begrünt, teilweise wie ein Dschungel, durch den mittels Durchgängen aus Glas Wege gebahnt wurden. Am südlichen Ende des Daches hat Piano mit einer la Bolla genannten Kugel aus Stahl und Glas einen VIP Raum geschaffen, der 25 Personen Platz bietet und direkt mit einem Hubschrauber-Landepatz verbunden ist. Hier hat man eine herrliche Aussicht über Turin und die Alpen. Auch die Piste und die Rampen wurden saniert, auch heute noch werden etwa Präsentationen von Autos hier veranstaltet. Wer will, kann hier auch joggen oder einfach nur spazieren gehen. Vergleicht man Bilder von damals und heute so wird man feststellen, dass Piano das Äußere von Lingotto kaum verändert hat, wohl auch aus Respekt vor seinen Erbauern und dem Erhalt der klaren Linien zuliebe, die dieses Gebäude auch heute noch einzigartig machen.

Lingotto Mycar 01Heute ist die ehemalige Einfahrstecke am Dach begrünt und darf, wenn überhaupt nur von Fahrzeugen mit E-Antrieb befahren werden.                    

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